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Finanzindustrie: Was kommt, was bleibt, was geht? Unsere Top 10
By | Quantum Client Delivery Lead
September 28, 2021

Technologische Entwicklungen, wirtschaftliche Rahmenbedingungen und ein verändertes Konsumentenverhalten stellen die altbekannte Welt der Finanzdienstleistungsbranche gänzlich in Frage. Covid-19...

Technologische Entwicklungen, wirtschaftliche Rahmenbedingungen und ein verändertes Konsumentenverhalten stellen die altbekannte Welt der Finanzdienstleistungsbranche gänzlich in Frage. Covid-19 und die Auswirkungen der globalen Pandemie haben diesen Prozess noch einmal beschleunigt. Mit welchen ganz konkreten Themen sollten sich die Finanzdienstleister weltweit also heute auseinandersetzen, welche Investitionen werden die nächsten Jahre bestimmen? Welche Trends sollten ganz oben auf der Agenda von vorausschauenden Führungskräften in der Finanzindustrie stehen? Hier unsere Top 10, die zu einem guten Teil auf einer Studie des IBM Institute for Business Value basieren. Dafür wurden 44 Mitglieder der IBM Industry Academy und Academy of Technology in 11 Ländern befragt. Ergänzt wird diese globale Marktsicht durch DACH- und branchenspezifische Überlegungen zum Thema Cognitive Banking sowie Quantencomputing – Themen, die zukunftsorientierte Banker bereits heute auf ihrem Radar haben.

1. Druck auf die finanzielle Performance treibt Suche nach neuen Einnahmequellen

Die schwache finanzielle Performance treibt die strukturelle Kostensenkung und die Konsolidierung der Branche sowie die Suche nach neuen Einnahmequellen an. Das Kurs-Buchwert-Verhältnis in der Finanzbranche liegt weit unter dem Durchschnitt anderer Branchen, und europäische Banken scheinen am meisten benachteiligt zu sein. Es ist unwahrscheinlich, dass die bestehenden Maßnahmen und Betriebsmodelle die von den Investoren geforderte Eigenkapitalrendite liefern können. Dies kann nur durch den Einsatz neuer Geschäftsmodelle angegangen werden, die das Ertragswachstum vorantreiben, sowie durch radikale Kostensenkungsinitiativen und eine weitere Verbesserung der Kapitaleffizienz und des Risikomanagements.

2. Beschleunigter digitaler Wandel erfordert virtuelle Kundennähe

Covid-19 und seine Auswirkungen auf unser tägliches Leben haben die Qualität digitaler Interaktionen schlagartig wichtiger werden lassen. Während der Anfangsphase der Pandemie sind Kunden schnell auf direkte digitale Kanäle umgestiegen. Genauso schnell wie sich Kundinnen und Kunden anpassen mussten, mussten auch Unternehmen in der Finanzindustrie die internen Prozesse für die Heimarbeit ihrer Belegschaft öffnen, und darüber hinaus digitale Interaktionen mit Partnern und Anbietern ermöglichen. Diese zunehmenden digitalen Erfahrungen machen die Nachfrage der Kunden nach transparenten, maßgeschneiderten Dienstleistungen in Echtzeit, die nahtlos in ihr Leben und ihre Geschäfte integriert sind, noch dringlicher. Eine erfolgreiche Bank hat dieses Thema ganz oben auf der Agenda und entwickelt eine Art virtuelle Nähe zu ihren Kundinnen und Kunden.

3. Neue, cloudbasierte Geschäftsarchitekturen kommen, um zu bleiben

Cloudbasierte Geschäftsarchitekturen beschleunigen die über APIs (Application Programming Interface) gesteuerten Fachfunktionen. Bestehende Architekturen können nicht die Kostenstruktur und die Agilität bieten, die erforderlich ist, um im Wettbewerb zu bestehen. Branchenführer migrieren zu neuen Betriebsmodellen, die auf einer offenen, hybriden Multi-Cloud-Architektur basieren. Um die erwarteten Renditen zu erzielen, könnten Finanzinstitute eine Spanne von 40-50 % der Workloads in einer spezifischen Public Cloud anstreben, etwa 20 % in einer traditionellen Public Cloud und die restlichen 30-40 % on-premises auf Basis einer modernen Mainframe-Infrastruktur. Zukunftssichere Institute der Finanzindustrie intensivieren die Cloud-Migration von geschäftskritischen Workloads. Sie koppeln die Anwendungsmodernisierung zusammen mit dem Bezug von Fachfunktionen von Joint Ventures oder externen Anbietern zu neuen Nutzungsmodellen.

4. „Eskalierender“ Wettbewerb bringt auch frischen Wind in die Finanzindustrie

Der zunehmende Wettbewerb innerhalb und außerhalb der Finanzdienstleistungsbranche verwischt die Grenzen zwischen Banken und Nicht-Banken, um kundenzentrierte Ökosysteme zu ermöglichen. Bigtech-Unternehmen bewegen sich „outside-in”, indem sie ihr Geschäft mit Finanzdienstleistungen erweitern. Sie interagieren mit Finanzkunden, indem sie Ökosysteme rund um das Leben der Menschen und ihre Geschäfte aufbauen und nutzen. Zukunftsweisende Finanzinstitute entwickeln deshalb ebenfalls neue Wertbeiträge, sie adressieren diese andersartigen Modelle für die weitere Inanspruchnahme von Finanzdienstleistungen. Sie entwickeln Innovationen „von innen nach außen”, um mit Kunden in Kontakt zu treten beziehungsweise zu bleiben und sie auf Nicht-Banken-Plattformen end-to-end einzubinden.

5. Mehr Herausforderungen für die betriebliche Ausfallsicherheit

Die Herausforderungen in Bezug auf die betriebliche Stabilität werden durch die zunehmenden Prüfungen der Aufsichtsbehörden sowie durch neue Compliance- und Geschäftsanforderungen getrieben. Inmitten der Unsicherheit nach der Pandemie lernen Compliance-Verantwortliche und Risikomanager, wie wichtig es ist, proaktiv zu sein und alle Auswirkungen auf ihr Geschäft zu antizipieren. Wir rechnen damit, dass es im Jahr 2021 und den Folgejahren zu einem Anstieg neuer Vorschriften hinsichtlich der Widerstandsfähigkeit der Finanzinstitute kommen wird.

6. Zunehmend offene und freie Daten

Zunehmend offene und frei zugängliche Daten schaffen Chancen für den cloud-nativen Wettbewerb. Die Finanzindustrie hat Zugang zu riesigen Mengen an Informationen über ihre Kunden – Daten, die billiger und zunehmend offener werden. Ausgewogene Datenstrategien untermauern den nachhaltigen Erfolg in der digitalen Plattformökonomie. Um erfolgreich zu sein, müssen die Datenumgebungen modernisiert werden, wobei neue Analyse- und KI-Tools zum Einsatz kommen und gleichzeitig ein transparenter Balanceakt zwischen dem Besitz und der gemeinsamen Nutzung von Daten über ganze Ökosysteme hinweg vollzogen wird.

7. Sicherheits- und Betrugsrisiken minimieren

Die Sicherheits- und Betrugsrisiken nehmen weiter zu – auch als Folge der von den Finanzinstituten im Rahmen der Pandemie eingeführten neuen Betriebsmodelle. In Kombination mit zahlreichen Kanälen, zunehmender Interkonnektivität, digitalen Plattformen und allgegenwärtigem Zugang steigen die Sicherheitsrisiken, Bedrohungen und Betrugsfälle. Ganzheitliche Strategien und die Kombination von Daten über alle Funktionen hinweg ermöglichen es den Finanzunternehmen, das gesamte Spektrum des Risikomanagements vorherzusehen und proaktiv zu reagieren. Vorausschauende Unternehmen sind sich dessen bewusst, dass sich das Risiko für Betrug und Sicherheitsverletzungen mit hochentwickelten Gegnern weiter verschärft.

8. Neue Arbeitsweisen fördern Zusammenarbeit

Neue Arbeitsweisen entstehen, da sich die Finanzinstitute von der traditionellen Front-Office/Back-Office-Segmentierung lösen. Teams aus Mitarbeitern, Subunternehmern und automatisierten Systemen arbeiten in neuen Kollaborationsmodellen an klar definierten Aufgaben über Fachgebiete hinweg zusammen. Dies wird durch Remote-Arbeit beschleunigt. Diese Neudefinition von „Zusammenarbeit“, in Verbindung mit einem intensiven Wettbewerb um digitale Talente, verändert die Art und Weise wie neue Mitarbeitende rekrutiert und bestmöglich eingesetzt werden.

Aus technologischer wie auch aus lokaler Sicht für den DACH-Raum möchten wir diesen 8 globalen Trends noch 2 ganz konkrete Handlungsfelder hinzufügen:

9. Cognitive Banking in der Finanzindustrie – Beziehungspflege trotz Automatisierung

Schon heute ist digital das „neue normal“ – auch in der Finanzindustrie. Für die Zukunft geht es aber darum, das Potenzial aus den Möglichkeiten der Digitalisierung und der Fülle der vorhandenen Daten richtig einzuschätzen. Dabei hilft Cognitive Computing, beziehungsweise in der branchenspezifischen Ausprägung das Cognitive Banking. Kognitive Systeme sind darauf angelegt, Daten aus unterschiedlichsten Quellen zu nutzen, zu verarbeiten und in der Interaktion mit dem Menschen ihre eigenen Fähigkeiten, ihr Wissen und ihr Können permanent zu erweitern. Basis dafür sind unter anderem neuronale Netzwerke, Machine Learning, Textanalyse-Tools und Spracherkennung, also Werkzeuge basieren auf Künstlicher Intelligenz (KI). Das Computersystem IBM Watson, das seit seinem erfolgreichen Einsatz in dem populären US-Fernsehquiz „Jeopardy!“ im Jahr 2011 ständig weiterentwickelt und damit auch kommerzialisiert wurde, kann Technologien mit künstlicher Intelligenz (KI) und anspruchsvolle analytische Software miteinander kombinieren. Inzwischen ist Watson als Webservice allgemein verfügbar. Auf der Plattform IBM Cloud werden zahlreiche Watson-Services angeboten, die, wie in einem Baukastensystem zusammengesetzt, dann wertschöpfende Lösungen (für Finanzdienstleister und alle anderen Unternehmenssparten) liefern.

In der der branchenspezifischen Anwendung des Cognitive Computing, dem sogenannten Cognitive Banking, gibt es vielfältige Einsatzmöglichkeiten, die in die drei Kategorien Betriebsunterstützung, Kundenbetreuung und Digitalisierung von Interaktionen eingruppiert werden können. Cognitive Agents und Cognitive Advisor werden als unterstützendes Element in der alltäglichen Kundenberatung sowohl in der Filiale, als auch im telefonischen oder digitalen Kundensupport eingesetzt. Im Backoffice wird Robotic Process Automation (RPA) zur automatisierten Ausführung von wiederkehrenden und regelbasierten Routineaufgaben genutzt, die bisher von Sachbearbeitern erledigt werden. Ferner ergeben sich Anwendungsmöglichkeiten in den immer komplexer werdenden Anforderungen der Bankenregulatorik. In der Zukunft wird die kognitive Bank eine zu weiten Teilen automatisierte Bank sein, die dem Kunden durch virtuelle Agenten einen deutlich verbesserten Kundenservice liefert – rund um die Uhr, an jedem Tag. Im Backoffice weist sie durch RPAs eine standardisierte und modernisierte Transaktionsverarbeitung auf. Des Weiteren sammelt sie für Entscheidungsfindungen und -umsetzungen des Managements aus strukturierten und unstrukturierten Daten Erkenntnisse und übersetzt diese in Empfehlungen zu Kunden, Märkten, Gelegenheiten und Risiken.

10. Last, but not least: Quantencomputing als Gamechanger

Mit einem völlig neuen Architekturansatz, dem Quantenrechner, wird das postklassische Computing eingeleitet. Auch die Finanzindustrie wird von der Schnelligkeit der Quanten-Algorithmen profitieren, dazu aber später mehr. Was macht diese neuartigen Rechner so besonders und so schnell? Im „klassischen Computer” werden Bits verarbeitet. Diese können nur zwei Werte annehmen und diese Werte sind eindeutig definiert. Ein Quantenbit, Qubit, ist ein Objekt, das zusätzlich auch alle Werte dazwischen annimmt, und zwar gleichzeitig (Superposition). Dieses immer noch schwer zu verstehende Phänomen der Quantenphysik und weitere quantenmechanische Eigenschaften ermöglichen den Aufbau völlig andersartiger Schaltkreise, die in Zukunft hochkomplexe Rechenaufgaben in einem Bruchteil der bisherigen Zeit durchführen können.

Quantencomputing: Neue Zugänge zu bekannten Fragen

Für die Finanzindustrie eröffnen sich mit dem Einsatz von Quantenrechnern neue Herangehensweisen an bekannte Fragestellungen. Sie betrachten sehr häufig kombinatorische Optimierungsprobleme im Handel und im Portfoliomanagement. Da diese exponentiell skalieren, haben Quantencomputer das Potenzial, schnellere, kostengünstigere und besser zugeschnittene Lösungen als klassische Rechner zu erzeugen. 3 Beispiele:

  • Ein Beispiel ist die Betrugserkennung (Fraud Detection). Die Datenmodellierungsfähigkeiten von Quantencomputern könnten dazu genutzt werden, Muster zu finden, und damit Wirtschaftskriminalität wie Geldwäsche oder Betrugserkennung wirksamer vorzubeugen. Eine Aufgabe, die heute aufgrund der Herausforderungen komplexer Datenstrukturen oft in angemessener Zeit so nicht möglich ist.
  • Anderes Beispiel: Im Wertpapierhandel werden Szenarien und Investitionsoptionen simuliert zur Abschätzung der erwarteten Renditen. Für das Rebalancing des Anlageportfolios könnten Quantenrechner noch genauere Ergebnisse zur Entscheidungsunterstützung liefern.
  • Und last, but not least: Die immer größer werdenden regulatorischen Anforderungen erfordern eine breite Palette von Stresstests. Die dazu verwendeten Monte-Carlo-Simulationen – die bevorzugte Technik zur Analyse der Auswirkungen von Risiko und Unsicherheit in Finanzmodellen – stößt durch zunehmenden Umfang und die steigende Komplexität der Modelle auf klassischen Computern schnell an ihre Grenzen. Quantenrechner könnten in Zukunft die Simulation von Risikoszenarien mit höherer Präzision beschleunigen und gleichzeitig mehr Ergebnisse testen.

Die derzeit verfügbaren Quantencomputer interagieren zwar schon mit einer hohen zweistelligen Zahl von Qubits, allerdings stören bisher noch Fehlerraten der Technologie den praktischen Einsatz. Daran wird aktuell geforscht. So ist im IBM Standort Ehningen im Jahr 2021 ein Kompetenznetzwerk als offene Forschungsplattform rund um einen Quantencomputer IBM Q System One mit 27 Qubits exklusiv für die Fraunhofer Gesellschaft und ihre Partner installiert worden. Dieses ordnet sich ein in die kürzlich vorgestellte Quanten-Roadmap von IBM: Im Jahr 2023 soll ein 1121-Qubits-umfassender Quantenprozessor namens Condor vorgestellt werden, der dann für einen breiten Einsatz in der Wirtschaft bereitstehen wird.

Fazit: Die Finanzindustrie steht aktuell vor immensen Herausforderungen: KI-getriebene Automation, auf hybriden und Multi-Cloud-Lösungen basierende neue Geschäftsarchitekturen, Aufwendungen für Cybersecuritiy, der auf den Instituten lastende Kostendruck und vieles mehr. Zusätzlich zeichnet sich am Horizont schon das postklassische Computing ab. Finanzinstitute sind also aufgerufen, sich schon jetzt mit diesem Paradigmenwechsel auseinanderzusetzen, damit sie Vorreiter in der technischen Entwicklung sind – und ihrer Konkurrenz damit einen Schritt voraus.

Einen eingehenden Einblick in weitere wesentliche Zukunftstrends für Finanzdienstleister zeigen zwei aktuelle Beiträge des Autors in einer Fachzeitschrift: Axel Sauerland: Die digitale Zukunft der Finanzdienstleister – Entwicklungen und Trends im Bereich Technologie. In: Finanzierung, Leasing, Factoring FLF 3/2021, S. 146 ff.

Axel Sauerland, Stefan Kister: Quantenrechner für Finanzdienstleister? Qubits – Computing vor der Marktreife. In: Finanzierung, Leasing, Factory FLF 5/2021, S. 248 ff.

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