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Die Finanzdienstleistungsbranche vor dem „Quantensprung“
By | Manager, Quantum Computational Sciences
July 13, 2021

Quantentechnologien und insbesondere Quantencomputer gelten auch für die Finanzdienstleistungsbranche als die vielversprechendsten Innovationsplattformen der nächsten Jahre. Spätestens mit der...

Quantentechnologien und insbesondere Quantencomputer gelten auch für die Finanzdienstleistungsbranche als die vielversprechendsten Innovationsplattformen der nächsten Jahre. Spätestens mit der kürzlich erfolgten offiziellen Inbetriebnahme des ersten kommerziellen Quantencomputers von IBM auf europäischem Boden, rücken die Möglichkeiten dieser Technologie wieder ein Stück näher. Das IBM Quantum System One, welches in Kooperation mit der Fraunhofer-Gesellschaft betrieben wird, steht Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Universitäten für anstehende Projekte und Aufgaben zur Verfügung.

Damit ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung „Quantenvorteil“ getan: Der Punkt, an dem Quantencomputer relevante Probleme schneller oder genauer lösen können als es heute mit klassischen Computern möglich ist, und sie dadurch einen praktischen Mehrwert generieren. Quantencomputer werden in vielen Branchen vollkommen neue Möglichkeiten eröffnen. In besonderem Maße gilt das für Finanzdienstleistungen. Hier geht es oft um winzige Wettbewerbsvorteile, die durch neue Technologien erreicht werden können. Quantencomputing ist eine dieser Technologien. Mit ihr lässt sich die Zeit für komplizierte Berechnungen drastisch reduzieren und deren Genauigkeit deutlich verbessern. Noch ist die Technologie nicht bereit für den produktiven Einsatz, aber es gibt gute Gründe heute schon darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten sich künftig bieten und wie Unternehmen bereits jetzt an dieser Entwicklung partizipieren können.

Quantencomputing in zwei Absätzen

Quantencomputing lässt sich nicht wirklich in zwei Absätzen erklären. Allerdings können wir die wichtigsten Faktoren, die die Leistungsfähigkeit von Quantencomputern ausmachen verdeutlichen: die Überlagerung und die Verschränkung. Klassische Computer stellen Daten entweder als Null oder Eins über ein Bit dar. Quantencomputer arbeiten jedoch mit Quanten-Bits (Qubits). Ein Qubit kann wie ein Bit entweder im Zustand Null oder Eins sein, es kann sich aber auch in einer gewichteten Überlagerung beider Zustände befinden. (Verdeutlicht in diesem Beitrag in der ARTE Mediathek.)

Dazu kommt das Phänomen der Quanten-Verschränkung. Aufgrund dieser Verschränkung können zwei oder mehrere Quantenobjekte physikalisch getrennt und trotzdem miteinander verbunden sein – ihr Verhalten ist korreliert. Während also ein Qubit in einer Überlagerung von zwei Basiszuständen sein kann, können 10 verschränkte Qubits in einer gewichteten Überlagerung von 1.024 Basiszuständen sein. Das führt zu einem exponentiellen Wachstum der möglichen darstellbaren Zustände in Bezug auf die Anzahl der Qubits. Die rechnerischen Möglichkeiten, die sich dadurch bieten, sind enorm. Und auch, wenn breit angelegte kommerzielle Anwendungen noch einige Jahre entfernt sind, wird erwartet, dass Quantencomputing innerhalb der nächsten Jahre bahnbrechende Produkte und Dienstleistungen für spezifische Geschäftsfelder hervorbringen wird. Daran arbeiten an dem IBM Quantum System One derzeit sechs Fraunhofer-Institute gemeinsam mit 16 weiteren Hochschulen und außeruniversitären Instituten sowie rund 40 assoziierten Unternehmenspartnern aus ganz Deutschland.

Zeit ist Geld

In kaum einem Bereich ist diese Redewendung so wahr wie in der Finanzdienstleistungsbranche. Hier kann ein Vorteil von Millisekunden große Gewinne bedeuten. Quantencomputing kann Finanzdienstleistungsunternehmen in die Lage versetzen, operative Prozesse neu zu gestalten, wie zum Beispiel:

  • Front-Office- und Back-Office-Entscheidungen zum Kundenmanagement für “Know Your Customer”, Kreditvergabe und Onboarding,
  • Treasury-Management, Handel und Vermögensverwaltung,
  • Geschäftsoptimierung, einschließlich Risikomanagement und Compliance.

Die spezifischen Anwendungsfälle für Finanzdienstleistungen lassen sich dabei in drei Hauptkategorien einteilen: Targeting und Vorhersage, Handelsoptimierung und Risikoanalysen.

Für illustrative Problemstellungen wurden bereits reale Quantensysteme zur Risikoanalyse genutzt. Jetzt gilt es zu verstehen, wie das auf realistischere Anwendungen erweitert werden kann, wie zum Beispiel Risikoanalyse und Bewertung von Vermögenswerten wie Anleihen und Optionen.

Damit Quantencomputing in der Finanzdienstleistungsbranche möglichst bald konkret genutzt werden kann, müssen wir gemeinsame Expertise aufbauen – die Dienstleister wie IBM zusammen mit den Finanzunternehmen. Die Vorreiter sind schon am Werk.

Früher Einstieg – früher Vorteil

Die 28 größten Banken weltweit verwalten zusammen mehr als 54 Billionen USD. Allein die US-Aktien- und Anleihenmärkte sind mit 70 Billionen USD kapitalisiert. In so großen Märkten hat die Entwicklung neuer Algorithmen, um Portfolios zu optimieren, Derivate zu bewerten, Risiken zu analysieren oder genauere Ausfallwahrscheinlichkeiten zu berechnen, einen weitreichenden Einfluss. Kein Wunder, dass sich bereits mehrere Institute mit Quantencomputing befassen, zum Beispiel Barclays, JPMorgan Chase (JPMC) und Goldman Sachs. Sie experimentieren mit der Technologie, um Risiken zu minimieren und die resultierende Performance zu maximieren.

Die Finanzdienstleistungsbranche Quanten-fähig für die Zukunft machen

Wer von den Möglichkeiten des Quantencomputings profitieren will muss vorbereitet sein: unter anderem mit qualifizierten, kreativen und ergebnisorientierten Fachkräften. Noch fehlen in vielen Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche die geeigneten Mitarbeiter, um Quantencomputer zu programmieren und zu nutzen. In vielen Fällen fehlen aber auch schon die Mitarbeiter, die eine Vorstellung davon haben, wie ein Quantencomputer ihrem Unternehmen helfen könnte. Denn hinter einem erfolgreichen Einsatz stehen nicht nur Physiker und Programmierer, sondern zum Beispiel auch Branchenexperten. Es gilt, mit dem richtigen Experten-Mix rechtzeitig Kompetenz aufzubauen. Der Kompetenzaufbau kann dabei über die Förderung interessierter Mitarbeiter erfolgen, aber auch durch Integration entsprechender Anforderungen in die Jobprofile neuer Mitarbeiter.

Darüber hinaus gibt es einige erste Schritte, um sich auf einen “Quantensprung” vorzubereiten:

  • Experimentieren mit verfügbaren Quantencomputern, klassischen Simulationen und Open-Source Quantum Computing-Frameworks mit Lernmaterial und gebrauchsfertigen Algorithmen und Applikationen.
  • Untersuchen von relevanten Anwendungsfällen: Dabei wird eine strategische Quantum-Roadmap erstellt, indem die Anwendungen entsprechend des Betriebsmodells und der strategischen Ausrichtung des Unternehmens qualifiziert und priorisiert werden.
  • Sicherstellen, dass die C-Suite des Unternehmens über das Thema Quantencomputing sprechen kann: Eher früher als später werden Kunden und Investoren danach fragen.
  • Anschluss an ein Ökosystem: In der Zusammenarbeit von etablierten Unternehmen, Start-ups, akademischen Partnern und nationalen Forschungslabors lassen sich Quantencomputing-Lösungen für Finanzdienstleistungen schneller entwickeln.

Wir brauchen Unternehmen in der Finanzdienstleistungsbranche, die ein ausreichendes Quantenbewusstsein haben, um die Potentiale des Quantencomputings zu erkennen und dafür zu nutzen, um Dienstleistungen besser zu machen und morgen die Produkte zu schaffen, die sich heute noch nicht realisieren lassen.

Darf es noch etwas mehr sein?

Weitere Informationen zum Thema Quantencomputing im Finanzdienstleistungsbereich finden sie unter diesen Links:

Hintergrundinformation: Machen Sie Ihr Finanzinstitut fit für die Quantencomputer-Revolution (englisch)

Blogbeitrag IBM Research: Beschleunigung der Risikobewertung durch Quantenalgorithmen (englisch)

Artikel: Erforschung von Anwendungsfällen des Quantencomputings für Finanzdienstleistungen (englisch)

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