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Human Friendly Automation Werte Charta: Würdevolle und wertstiftende Arbeit im Zeitalter intelligenter Maschinen sicherstellen
By | Associate Partner & Practice Lead DACH - Digital Change & Transformation
September 21, 2021

Aus einem Netzwerk von Digital Change Experten der IBM, der Wissenschaft und von einer Vielzahl international agierender Großunternehmen ist eine Werte- und Prinzipien-Charta entstanden. Diese...

Aus einem Netzwerk von Digital Change Experten der IBM, der Wissenschaft und von einer Vielzahl international agierender Großunternehmen ist eine Werte- und Prinzipien-Charta entstanden. Diese hat zum Ziel, den Implementierungsprozess von Künstlicher Intelligenz (KI) und Automation sozial und vorausschauend im Sinne der Beschäftigten zu gestalten. Die Human Friendly Automation (HFA) Werte Charta bildet ein solides Fundament für das Recht auf gute Arbeit in einer Ära, in der intelligente Bots immer mehr Tätigkeiten eigenständig erledigen können.

Warum ist eine Human Friendly Automation Werte Charta jetzt wichtig?

Wenn man sich mit KI und Automatisierung im Beratungsalltag beschäftigt, nimmt man viele einzelne Projekte bei verschiedenen Kunden wahr. Hier mal ein Bot im Service Center, da mal eine Prozessoptimierung im Zentraleinkauf. Die betroffenen Mitarbeiter freuen sich sogar, dass ihnen der Roboter lästige Aufgaben abnimmt und sie als Trainer die Arbeit der Maschine verbessern können. Anderen helfen macht Spaß – egal, ob es ein menschlicher oder digitaler Kollege ist. Ja, Automatisierung bereitet derzeit vielen mehr Freude als Kopfschmerzen.

Doch schaut man genauer hin, dann gibt es bereits heute zahlreiche Beispiele, bei denen Menschen nicht mehr nur eine IT-Anwendung bedienen können, sondern sich beruflich neu erfinden müssen: Der US Mautstellenbetreiber Pennsylvania Turnpike hat inmitten der Pandemie die Mautstellenprozesse automatisiert und 500 Mitarbeitende dauerhaft entlassen. In der EU sind diese Phänomene ebenfalls zu beobachten: Check-in Schalter an Flughäfen sind aufgrund automatisierter Check-ins kaum noch besetzt; aufgrund KI basierter Übersetzungsprogramme werden Dolmetscher von Behörden und Unternehmen viel weniger beauftragt; und von Menschen erledigte Essenslieferdienste werden bereits in Island durch KI gestützte Drohnen oder in Berlin durch autonome Fahrzeuge ersetzt.

Substitutionspotenzial von Berufen durch Automatisierung steigt rapide an

Der Klimawandel wurde erst dann als ein globales Problem erachtet, als man nicht mehr nur lokale Unwetterphänomene, sondern eine hollistische Perspektive eingenommen hat. Ähnlich verhält es sich mit der Automatisierung und ihren Folgen für die Menschen: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit stellt diesen Zusammenhangs-Blick her. Im Juli 2021 hat das IAB den Fortschritt des Impacts intelligenter Automatisierungstechnologien über alle Berufsgruppen hinweg aufgezeigt: Zwischen 2013 und 2019 wurde gemessen, wie viele Jobs vollständig oder teilweise von Robotern übernommen werden können. Demnach befanden sich im Jahr 2019 34% aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Gruppe jener, deren Tätigkeiten zu 70%-100 % von Automatisierungstechnologien abgelöst werden können. In der Gruppe des mittleren Substituierungspotenzials (30%-70 %) befand sich mit 41% die Mehrheit der Beschäftigten. Und die Gruppe derjenigen, deren Beruf geringfügig automatisierbar wäre (0%-30%) sank von 2013 bis 2019 von 40% auf 25% ab. [vgl. IAB-Kurzbericht 13|13.07.2021, Hg. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit].

Halten wir es uns vor Augen: 75 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland standen bereits 2019 vor dem Risiko, dass ihre Tätigkeiten ganz oder zumindest in einem erheblichen Ausmaß von intelligenten Maschinen übernommen werden könnten.

Noch immer sind diese Ersetz-Potenziale (Mensch durch Maschine) in den meisten Fällen nicht gehoben worden. Das liegt vor allem an der fehlenden Informationsarchitektur (IA) sowie der geringen Datenkompetenz in traditionellen Organisationen. IA und Skills werden aktuell aufgebaut, sodass ab 2025 intelligente Automatisierung großflächig (skaliert) zur Anwendung kommen wird. Dann handelt es sich nicht mehr nur um Substituierungspotenziale, sondern um spürbare „Execution“. Schenkt man den Berechnungen des IAB Glaube, dann würden die Effekte für die Volkswirtschaft, Millionen von Beschäftigten und ihre Familien gravierend ausfallen. Deshalb besteht jetzt Handlungsbedarf für die Ausgestaltung einer Human Friendly Automation sowohl in den Unternehmen als auch zwischen diesen.

ESG Verordnung der EU: Beschäftigte dürfen keine Nachteile durch technischen Fortschritt haben

Sich in seiner Organisation mit einer Human Friendly Automation Werte Charta und deren Implementierung derzeit zu beschäftigen, macht nicht nur vor dem Hintergrund der oben genannten Zahlen des IAB Sinn. Auch die Institutionen der EU wollen durch Regulation verhindern, dass Menschen durch technischen Fortschritt Nachteile haben. Ein Recht auf „gute Arbeit“, die Wohlstand sichert und würdevoll ist, soll in den Mitgliedstaaten der EU im Rahmen der Green Deal Wachstumsstrategie der Europäischen Kommission umgesetzt werden. Dazu setzt man bei den Kapitalgebern von Innovationen an: Will ein Börsen notiertes Unternehmen beispielsweise Geld von seinen Shareholdern für intelligente Automatisierung nutzen, dann muss es aufzeigen, wie die betroffenen Beschäftigten dadurch keine Nachteile haben und wie sie an der Implementierung entweder selbst oder durch ihre Mitbestimmungsvertetenden beteiligt wurden. Kann es das nicht, erhält das Unternehmen einen negativeren Social Score seitens der Rating Agentur und fliegt möglicherweise aus dem Portfolio großer Fondsgesellschaften. Diese Praxis kann man derzeit bereits erleben, wenn Unternehmen die Umwelt-Scores der Rating-Agenturen nicht erfüllen.

Mit einer Human Friendly Automation Werte Charta können sich Unternehmen daher eine Selbstverpflichtung zur Einhaltung der Social-Criteria innerhalb der ESG-Verordnung geben. Diese schützt sie sowohl vor Reputations- und ökonomischen Risiken.

Die Human Friendly Automation Werte Charta hat das Potenzial, zukünftige, negative Effekte sowohl für die von intelligenter Automatisierung betroffenen Beschäftigten abzumildern, Risiken für Unternehmen als auch für die Gesellschaft zu minimieren.

Hierbei sieht IBM insbesondere auch die HR-Abteilungen in Unternehmen in der Verantwortung, für die Automation in den kommenden Jahren ein wesentliches Thema sein wird, wie auch im Interview mit dem Personalmagazin ausführlich erläutert.

Epochale Chance: Die Automation Ära zum Win-Win für Mensch und Wirtschaft machen

Die Entwicklungen von Industrie 1.0 bis 4.0 wurden überwiegend aus einer vertikalen und technischen Perspektive verfolgt. Erinnert man sich an die Arbeitenden im Automobil- oder Bergbau, so waren sie in der Regel auf sich selbst gestellt. Manchmal hat die berufliche Neuerfindung geklappt, oftmals aber auch nicht (insbesondere dann, wenn die Wertschöpfung ganzer Regionen betroffen war). Eine horizontale und humane Dimension, welche die Auswirkungen auf Menschen und Ökoysteme strategisch in den Mittelpunkt stellt, ging nicht Hand in Hand mit der Implementierung der maschinellen und später digitalen Automatisierungstechnologien einher.

Aufgrund der derzeitigen Phase des Aufbaus notwendiger Informationsarchitekturen haben wir erfreulicherweise ein Zeitfenster, das Unternehmen und Organisationen nutzen sollten, um den von KI und Automation geprägten Wandel human friendly zu gestalten. Es ist somit eine epochale Chance. Die Human Friendly Automation Werte Charta ist dabei ein Statement: „Wir haben aus der Vergangenheit gelernt und achten konsequent, dass betroffene Mitarbeitende die Gewinner des technologischen Fortschritts sind.“

Die Human Friendly Automation Werte Charta

Die Human Friendly Automation Werte Charta fokussiert den Implementierungsprozess von KI und Automatisierungstechnologien. Darin grenzt sie sich beispielsweise von verwandten Initiativen wie AI Ethics ab, die sich vor allem auf das faire, Kunden- und Mitarbeiter-zentrierte Management von Daten sowie die damit verbundene Programmierung von Algorithmen (bspw. Anti-Diskriminierung und ethische Entscheidungen in Notfällen) fokussiert.

Human Friendly Automation konzentriert sich auf die Frage: Wie gestaltet man die Implementierung von Technologie so, dass die betroffenen Beschäftigten so früh wie möglich die Chance erhalten, eine neue berufliche Aufgabe -innerhalb oder außerhalb der Organisation- zu erhalten, die würdevoll ist, Wohlstand sichert und vor allem gleichviel oder sogar mehr Freude bereitet?

Die Human Friendly Automation Werte Charta dient daher zunächst dem Top-Management, sich der Frage nach den Folgen für die Beschäftigten in der Organisation sowie bei Dienstleistern bewusst zu machen. Doch nicht nur auf der Corporate Ebene des strategischen Managements soll sie Anwendung finden. Vielmehr kann sie im Nachgang einen wichtigen Diskurs zwischen den IT-Projektleitern, der Mitbestimmung, involvierten Mitarbeitenden sowie den Bereichen HR, Business Development und Kommunikation auf verschiedenen Leveln rund um KI und Automation entfachen. Die Human Friendly Automation Werte Charta ist ein Gesprächsanlass und ermöglicht die unternehmensweite Beschäftigung mit der Zukunft der Organisation in der Bot Ära.

Elemente der Human Friendly Automation Werte Charta

Die Wertepaare „Menschlichkeit & Autonomie“, „Offenheit & Transparenz“, „Entfaltung & Befähigung“ sowie „Ganzheitlichkeit & Langfristorientierung“ bilden die vier thematischen Blöcke. Jedes Wertepaar wird durch jeweils drei Prinzipien konkretisiert. Das Design der Human Friendly Automation Werte Charta und die Formulierung der Prinzipien orientiert sich an dem agilen Manifest, das die global verbindliche Wertebasis für die Vorgehensweise bei der Software-Entwicklung und der Erneuerung von Organisationen darstellt.

Sowohl die Wertepaare als auch die Prinzipien wurden bewusst abstrakt gehalten. Sie beschreiben das „Was“. Das „Wie“ der Umsetzung der Werte und Prinzipien ist den Anwender_innen überlassen. Auf diese Weise sollen die individuellen Bedürfnisse jeder Organisation bestmöglich berücksichtigt werden können. Es wird spannend zu sehen sein, welche „Human Friendly Automation Culture Hacks“, also konkrete Umsetzungsmaßnahmen, entstehen werden.

Dadurch, dass sich die Human Friendly Automation Werte Charta auf das „Was“ konzentriert, kann sie den Anspruch auf globale Gültigkeit geltend machen.

Auf jene, die die Charta das erste Mal betrachten, kann der normative Charakter der Charta irritierend wirken. Das Autoren-Team hat der Charta bewusst den Charakter eines „Grundgesetzes“ verliehen, da sie nicht weniger als das Wohl von Menschen über das von intelligenten Maschinen fordern und absichern soll – immer und überall.

Der Erstellungsprozess: Wie die Human Friendly Automation Werte Charta entstanden ist

Im Mai 2020 hat IBM sich mit sehr erfahrenen Change- und HR-Experten aus der Automobil-, Finanz-, Telekommunikations- und Chemieindustrie sowie des Instituts für Sozialforschung (ISF) München zur Entwicklung eines verbindlichen Werte-Dokuments unter dem Titel „Human Friendly Automation“ zusammengetan. Diesem Ruf sind umgehend nicht nur die angesprochenen Experten, sondern weitere „Vordenker“ aus verschiedenen Unternehmen sowie aus Behörden gefolgt. Im Rahmen monatlicher, abendlicher sowie virtueller Arbeitssitzungen (meist 2-3 Stunden) wurde leidenschaftlich über die relevantesten Werte diskutiert, welche betroffenen Mitarbeitergruppen helfen. Alle Teilnehmer_innen dieser Arbeitssitzungen verstehen sich als „Promotoren“ und wollen die Human Friendly Automation Werte Charta in ihre Organisationen tragen und arbeiten daran, dass sich nicht nur sie selbst als Individuen, sondern auch ihre Arbeitgeber_innen zu der Charta bekennen.

Als Vorgehensweise wurde Design Thinking angewandt: Auf diese Weise haben die Promotoren in ihren Organisationen zunächst erkundet, welche Herausforderungen für Beschäftigte bei intelligenten Automatisierungsprojekten derzeit bestehen und wie die Implementierung erfolgt. Diese Erkundungsphase wurde durch verschiedene Expertengespräche mit internationalen KI und Automation-Projektleiter_innen der IBM angereichert. Ebenfalls wurden wissenschaftliche Erkenntnisse aus Studien sowie aus dem Forschungsprojekt humAIn.work.lab, an dem sich IBM als Praxispartner beteiligt, regelmäßig dem Expertennetzwerk zur Verfügung gestellt und in der Erstellung der Charta berücksichtigt.

In einer zweiten Phase der Erstellung wurden die Ergebnisse der Erkundung ausgewertet und mit weiteren Experten innerhalb der IBM (wie dem Leiter für Corporate Social Responsibility) als auch von außerhalb (wie Vertretenden des Betriebsrats eines internationalen Telekommunikationsunternehmens) reflektiert.

Das Promotorennetzwerk hat anschließend thematische Cluster gebildet und priorisiert. Das Ergebnis sind die vier Wertepaare.

Es hat weitere Monate gedauert, drei Prinzipien pro Wertepaar herauszuarbeiten. Dabei sind vor allem die Praxiserfahrungen des IBM Digital Change Teams von zahlreichen nationalen und internationalen KI und Automation Engagements hilfreich gewesen. Die IBM Experten haben pro Wertepaar Kleingruppen gebildet und die Vorschläge für Prinzipien bis zu den nächsten Treffen in der großen Runde des Netzwerks vorbereitet. Das Feedback der gesamten Promotoren hat dann oftmals zu Anpassungsforderungen an Formulierungen geführt, sodass der Prozess insgesamt qualitativ hochwertig, jedoch sehr zeitintensiv gewesen ist.

Die Promotoren haben die Werte und Prinzipien in ihren Organisationen mit Projektverantwortlichen für KI, Automation sowie von HR und Kommunikation getestet. Das Feedback wurde aufgenommen. So konnte eine gewisse Robustheit für die Human Friendly Automation Werte Charta erzielt werden.

Mitmachen erwünscht. Mitstreiter willkommen.

Obgleich das Netzwerk an Unterstützenden täglich wächst und die Anzahl an Automatisierungsprojekten kontinuierlich steigt, gibt es immer wieder Stimmen, die den Wandel für die Beschäftigten verharmlosen: „Im Wandel gibt es immer auch Verlierer“ oder positiver: „Es wird viele neue Jobs im IT-, Umwelt- und Gesundheitsbereich geben“, sind allgemeingültige Aussagen, die eine riskante Gleichgültigkeitsstimmung auf Führungsebenen in Unternehmen und Behörden schaffen. Es mag sein, dass es tatächlich mehr neue Berufe und Tätigkeiten sowie mehr Personalbedarfe in Spezialgebieten geben wird. Das alles hilft den von intelligenter Automatisierung betroffenen Mitarbeitenden allerdings nur, wenn sie (a) frühzeitig davon erfahren, (b) die Auswirkungen auf ihre Arbeit durchdenken, (c) die Erfordernis zur persönlichen Veränderung verstehen und (d) ihnen ausreichend zukunftsweisende Qualifikationsangebote und (c) Stellen zur Verfügung gestellt werden.

Die Human Friendly Automation Werte Charta legt den Grundstein, um genau diese Anforderungen immer und überall bei der Einführung intelligenter Automatisierung sicherzustellen.

Das Promotorennetzwerk besteht derzeit aus 20 Mitgliedern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den USA. Es soll aber noch weiter wachsen. Interessierte können die Human Friendly Automation Werte Charta und deren Implementierung kennenlernen. Dabei können sie Themen rund um HR, Mitbestimmung, KI, People Development und Change Management bei Automation im Austausch mit den zahlreichen erfahrenen Köpfen aus verschiedenen Branchen und den Experten der IBM vertiefen.

Jeder ist eingeladen, sich in dem Ökosystem zu engagieren und ebenfalls Begründer_in und Mitstreiter_in für Human Friendly Automation zu werden!

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