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Quantencomputing: Von der Theorie in die Praxis
By | General Manager IBM DACH
August 23, 2022

Wie kann Quantencomputing unseren beruflichen und privaten Alltag verändern? Diese Frage höre ich nicht erst, seit wir im Juni 2021, gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft den ersten...

Wie kann Quantencomputing unseren beruflichen und privaten Alltag verändern? Diese Frage höre ich nicht erst, seit wir im Juni 2021, gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft den ersten kommerziellen Quantencomputer auf europäischem Boden vorgestellt haben. Oft wird sie mit echtem Interesse an der Innovation gestellt. Manchmal mit einer guten Portion Respekt. Und ab und zu auch mit einiger Vorsicht. Meine Antwort fällt immer ein wenig anders aus. Eines ist aber heute schon Fakt: Anwendungen der Quantenphysik sind längst ein fester Bestandteil unseres Lebens. Quantencomputer bilden in naher Zukunft eine ganz andere technische Grundlage für die Berechnung von Lösungen für höchst komplexe Probleme, an denen heutige Supercomputer scheitern.

Schon heute profitieren wir längst vom Zusammenspiel zwischen klassischen Rechnern und Quantenmechanik. Elektronik, Digitaltechnologien, Laser, Mobiltelefon, Satelliten, Fernseher, Radio, Nukleartechnik, die moderne Chemie, medizinische Diagnostik – all diese Technologien beruhen auf den Gesetzen der Quantentheorie. Wir vertrauen ihren Gesetzen, wenn wir in ein Auto steigen, und uns auf die Bordelektronik verlassen oder unseren Computer hochfahren, der aus integrierten Schaltkreisen besteht, das heißt einer auf Quantenphänomenen basierenden Elektronik. Sie begleitet uns, wenn wir Musik von CDs hören, die durch Laser, einem reinen Quantenphänomen, ausgelesen werden; Röntgen- oder MRT-Aufnahmen unseres Körpers machen lassen oder mittels unseres Handys kommunizieren. Schätzungen zufolge lässt sich zwischen einem Viertel und der Hälfte des Bruttosozialprodukts der Industrienationen direkt oder indirekt auf Erfindungen mit quantentheoretischer Grundlage zurückführen. In Zukunft ist aber noch mehr möglich.

Ein Morgen mit Quantencomputing

Ob nun der erste Schluck Kaffee oder der erste Löffel Müsli: Das Frühstück wird künftig wahrscheinlich der erste Moment des Tages sein, an dem wir von Quantentechnologie profitieren. Folgt man den Schätzungen der UN, so wird die Weltbevölkerung bis 2050 voraussichtlich auf 10 Milliarden Menschen anwachsen. Das hat zur Folge, dass die herkömmlichen Ansätze, sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Logistik, nicht in der Lage sein werden, die steigende Nachfrage nach Lebensmitteln nachhaltig zu decken. Um sie vom landwirtschaftlichen Anbau bis auf den Tisch des Konsumenten zu bringen, müssen wir jahrzehntealte Techniken durch neue ersetzen. Ein Beispiel: Gegenwärtig ist das Haber-Bosch-Verfahren für den Dünger verantwortlich, den wir in der Landwirtschaft verwenden. Allerdings ist dieses Verfahren aufgrund seines energieintensiven katalytischen Prozesses für ein bis zwei Prozent der weltweiten Kohlenstoffemissionen verantwortlich. Quantencomputer können dazu beitragen einen neuen, effizienteren und weniger energieintensiven Katalysator für die Düngemittelproduktion zu entwickeln.

Quantencomputing könnte auch unsere Energieerzeugung verbessern. Wissenschaftler der University of Notre Dame, Indiana, erforschen derzeit, wie Quantencomputer eingesetzt werden können, um die Umwandlung von Solarenergie voranzubringen. Und e.on arbeitet zusammen mit IBM an Quantenlösungen für kritische Arbeitsabläufe. Mithilfe von Quantencomputing will das Team gemeinsam die Netzinfrastruktur effektiver und effizienter steuern.

Schneller wissenschaftlicher Fortschritt dank Quantum Computing

In den Material- und Biowissenschaften profitieren Ingenieure und Forscher in Zukunft davon, dass Quantencomputer gemeinsam mit Künstlicher Intelligenz, Hybrid Cloud und automatisierten Robotern kombiniert werden, und sich die Entdeckung neuer Materialien oder Medikamente von heute durchschnittlich 10 Jahren auf ein Jahr beschleunigt. Erst im vergangenen Jahr haben Wissenschaftler von IBM zum Beispiel auf diesem Weg einen nachhaltigeren Säuregenerator für die Halbleiterherstellung entwickelt, der das seit mehr als 30 Jahren verwendete Material ersetzen könnte.

Wir nennen diesen Ansatz IBM Accelerated Discovery, den wir bereits mit einigen Partnern vorantreiben:

In der kanadischen Provinz Quebec arbeiten wir gemeinsam mit der dortigen Regierung am Aufbau eines Technologiezentrums, das zu den Themen Nachhaltigkeit, Biowissenschaft und Halbleiter forscht. Zentraler Bestandteil ist ein IBM Quantum System One –  es wird ein weiteres System seiner Art außerhalb der USA sein – nach unserem in Ehningen und in Japan.

Im englischen Daresbury östlich von Liverpool arbeiten wir gemeinsam mit dem UK Research and Innovation’s Science and Technology Facilities Council (STFC) am Hartree National Centre for Digital Innovation (HNCDI) an ähnlichen Themen.

Und im Rahmen einer zehnjährigen Partnerschaft mit der US-amerikanischen Cleveland Clinic wollen wir die Forschungen zu Gesundheitsthemen und -therapien beschleunigen. Dort wird auch in naher Zukunft ein IBM Quantensystem zum Einsatz kommen, dass es bisher erst auf dem Papier gibt: Ein Rechner mit mehr als 1000 Qubits und zentraler Baustein unserer Quantum-Roadmap, die heute bereits Prozessoren mit 127 Qubit anbietet und Ende dieses Jahres bereits die nächste Generation mit 433 Qubits vorsieht.

Quantentechnologie „on the job“

Aber auch im weiteren Alltag auf dem Arbeits- oder Schulweg könnten wir künftig mit Quantentechnologie in Berührung kommen. Autofahrer nutzen dann Elektrofahrzeuge – vorausgesetzt die Herausforderungen der derzeitigen Generation von Elektrofahrzeugen sind gelöst: deren Reichweite und die Ladegeschwindigkeit. Einige Hersteller nutzen bereits heute die Fähigkeiten von Quantencomputern, um bestehende Lithium-Schwefel-Batterietechnologien weiterzuentwickeln und neue chemische Verbindungen zu erforschen.

Quantencomputer spielen auch eine wichtige Rolle in der Zukunft des Routen- und Verkehrs-Managements. Von selbstfahrenden Autos bis hin zu fahrerlosen Zügen – die Technologie könnte in der Lage sein, KI-Systeme zu trainieren, weil sie Rechenräume erschließen kann, die für klassische Computer unzugänglich sind. Eine entsprechend trainierte KI würde es ermöglichen, auf Navigationsherausforderungen in Echtzeit zu reagieren oder komplexe Fahrpläne im öffentlichen Verkehr jederzeit zu optimieren. ExxonMobil untersucht bereits eine ähnliche Lösung für die Handelsschifffahrt. Dazu wird die Routenplanung für mehr als 50.000 Schiffe mit 1012 verschiedene Kombinationen aus Containern, Schiffen, Routen und Häfen berechnet werden, um sie zu automatisieren und zu optimieren.

Und im Finanzwesen werden die derzeit in der Entwicklung befindlichen Quantenfinanz-Algorithmen den Banken und damit letztlich uns allen dabei helfen, Risiken zu optimieren und Portfolios zu verwalten.

Auch in der Freizeit wird Quantentechnologie präsent sein: Laut Statista verbringen 34,3 Millionen Deutsche ihre Zeit mit Computer- und Videospielen, nutzen die Fortschritte in der Spieletechnologie wie High-End-Grafik und VR. Die Gestaltung virtueller Welten, in denen sie spielen, wird allerdings immer teurer und zeitaufwändiger. Quantentechnologie kann diese Prozesse automatisieren und gleichzeitig den Realismus virtueller Umgebungen verbessern. In Experimenten von IBM Research konnten innerhalb von Minuten topografische Karten erstellt werden, die denen in Minecraft ähneln, dem meistverkauften Spiel aller Zeiten. Das Besondere dabei: das „Zufällige“ der Realität wird integriert, so dass virtuelle Welten noch natürlicher wirken.

Der Schritt von der Theorie in die Praxis

Träumen allein bringt uns allerdings nicht weiter. Um die genannten Möglichkeiten für unseren künftigen Alltag zu nutzen, müssen wir aktiv werden. Mit der Quantentechnologie ist es wie mit vielen Technologien: sie sind nur so gut und sinnvoll, wie die Menschen, die sie entwickeln und nutzen. Deshalb sind qualifizierte, kreative und ergebnisorientierte Fachkräfte ein zentraler Bestandteil, um die Entwicklung der Technologie voranzutreiben. Es gilt mit dem richtigen Experten-Mix rechtzeitig Kompetenz aufzubauen. Dieser Aufbau kann über die Förderung interessierter Mitarbeitender erfolgen, aber auch durch die Integration entsprechender Anforderungen in Jobprofile.

Das Thema muss auch in den Führungsetagen von Unternehmen ankommen. Kunden und Investoren werden eher früher als später danach fragen. Die Antworten können dann in einer strategischen Quantum-Roadmap liegen. Und nicht zuletzt: übergreifendes Teamwork ist wichtig. Kaum ein Unternehmen kann die Technologie heute im Alleingang aufbauen und nutzen. Über ein Ökosystem mit anderen etablierten Firmen, Start-ups, akademischen Partnern und nationalen Forschungslabors lassen sich Quantencomputing-Lösungen gemeinsam schneller entwickeln.

Kurz: Wir brauchen Unternehmen mit ausreichendem ˋQuantenbewusstseinˋ, um die Potenziale der Technologie zu erkennen und sie dafür zu nutzen, um künftige Dienstleistungen besser zu machen und Produkte zu entwickeln, die klar zeigen, dass Quantencomputing unseren Alltag zukünftig verändern kann.

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