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Nach Bauarbeitern gehören Feuerwehrleute zu den am meisten gefährdeten Versicherten in der gesetzlichen Unfallversicherung. Kaum verwunderlich, denn was uns alle in der Regel sicher und gesund...
Nach Bauarbeitern gehören Feuerwehrleute zu den am meisten gefährdeten Versicherten in der gesetzlichen Unfallversicherung. Kaum verwunderlich, denn was uns alle in der Regel sicher und gesund hält – das Heraushalten aus Gefahrenzonen – gilt für sie nicht. Wenn sie zu einem Notruf ausrücken, führt sie das in der Regel genau hinein in die Gefahr. Um Unfälle zu vermeiden, müssen sie sich dann auf ihre persönliche Schutzausrüstung, ihre Erfahrung und ihre körperliche und mentale Fitness verlassen können. Doch selbst, wenn die Grundvoraussetzungen für die Sicherheit gewährleistet sind, wie optimale Ausrüstung, konsequentes Fitnesstraining und gute fachliche Ausbildung, ist die Situation an einem Einsatzort nicht berechenbar – und auch nicht die Reaktion der einzelnen Einsatzkraft vor Ort.
Feuerwehrleute stehen im Einsatz unter einem immensen Druck. Extreme Hitze, schlechte Sicht durch Rauchentwicklung, Zeitdruck, Gefahr – das sind Faktoren, unter denen sie agieren müssen. Der Stress, der in einer solchen Situation entsteht, beeinflusst die körperliche und mentale Reaktionsfähigkeit und kann zu einer potenziell schweren Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten führen. Der Betroffene ist sich seiner eingeschränkten Urteilsfähigkeit dann oft gar nicht bewusst – mit fatalen Folgen, denn jeder Fehler kann ein Leben kosten, das eigene oder das eines Mitmenschen.
Um diese Gefahr zu reduzieren, haben IBM und fortiss, das Landesforschungsinstitut des Freistaats Bayern für softwareintensive Systeme, ein gemeinsames Projekt gestartet. Sie arbeiten an einer Möglichkeit, das Stresslevel einer Einsatzkraft in Echtzeit zu messen und einzuschätzen, um sie auf dieser Basis direkt im Einsatz bei ihren Entscheidungen zu unterstützen.
Start des Projektes war Ende 2019, es steckt also noch mitten in der Entwicklung, erste Herausforderungen sind aber bereits gemeistert. Im IBM THINK Blog begleiten wir das Projekt vom Design-Thinking-Ansatz bis zur Anwendung am Einsatzort.
Teil 1 – Challenge accepted – oder: Wie misst man das individuelle Stressniveau?
Wie misst man Stress? Alleine diese Frage kann bei den Experten selbst schon ein gewisses Maß an Stress erzeugen. Denn tatsächlich ist darüber noch relativ wenig bekannt. Natürlich gibt es generelle Indikatoren für Stress, wie Herzfrequenz, Gehirnaktivität, Muskelspannung, Hautfeuchtigkeit oder der Pegel des Stresshormons Cortisol im Blut. Berücksichtigt werden muss aber auch die individuelle Reaktion auf Stress, die nicht nur von der aktuellen mentalen Belastbarkeit des Einzelnen abhängt, sondern auch von der Situation, in der er sich während der Messung befindet. Eine Einsatzkraft kommt persönlich vielleicht mit einem Brand besser zurecht als mit einem Verkehrsunfall.
Um diese Herausforderung zu meistern, setzen IBM und fortiss auf die Entwicklung neuer benutzerzentrierter Machine-Learning-Algorithmen zur Stressüberwachung, die auf Data Mining und kognitiven Eigenschaften basieren. Damit werden anhand unterschiedlicher Einsatzszenarien der Feuerwehr und den Erfahrungen aus solchen Einsätzen neue personalisierte Stresserkennungsmodelle entwickelt. Ziel ist es, einen klar nachvollziehbaren Benutzer-Stresszustand zu definieren. Hierbei kamen verschiedene Machine-Learning-Ansätze zum Einsatz, wie beispielsweise die Multiklasse-Klassifizierung mit C5-Baummodell und „label-free“-Feature-Extraktor sowie eine effiziente Personalisierungsmethode, dank dem „Human in the loop“-Ansatz.
Grobübersicht über den Ablauf der in das Modell gespeisten Daten
Der individuelle Stress ist die Basis für die Einschätzung der Stressbelastung während eines Einsatzes. Wird eine vordefinierte, kritische Grenze erreicht, erhält nicht nur die Einsatzkraft eine Warnung, auch der Einsatzleiter sieht es auf einem Monitor und kann von außen eingreifen. Bis diese Lösung allerdings wirklich betriebsbereit ist, sind noch eine ganze Reihe von Herausforderungen zu meistern. Welche Körperfunktionen müssen gemessen werden, um das individuelle Stresslevel zuverlässig zu ermitteln? Welche Sensoren sollen dafür genutzt werden, und wie können sie am Körper getragen werden? Wie muss eine Benutzerschnittstelle wie etwa auf einem Tablet oder einer Smartwatch gestaltet sein, damit der Einsatzleiter seine Mannschaft im Auge behalten kann, und wie kann die reibungslose Kommunikation mit dem Einzelnen gewährleistet werden?
Daten sammeln mit Virtual Reality
Das Team vom IBM fortiss Center for AI, das sich diesen Herausforderungen stellt, setzt sich aus Spezialisten aus den Bereichen Research & Development, Human-centered Engineering und Machine Learning von fortiss zusammen. Dieses Team nutzt zudem immer wieder die für dieses Projekt ausschlaggebende Expertise von Feuerwehrleuten der Freiwilligen Feuerwehr und der Berufsfeuerwehr. Damit folgt das Projekt einem Design-Thinking-Ansatz, bei dem Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen gemeinsam eine Fragestellung bearbeiten, Lösungen entwickeln, immer wieder überprüfen und zur Umsetzung bringen.
Im ersten Schritt hatte das Team drei wesentliche Ziele:
- Die Personalisierbarkeit der Lösung zu erarbeiten, um sie an die Bedürfnisse und die Situation jedes Einzelnen anzupassen und gleichzeitig die Privatsphäre zu respektieren.
- Effiziente benutzerzentrierte „Human in the Loop“-Machine-Learning-Algorithmen aufzusetzen, zur Einschätzung und Vorhersage des Belastungsniveaus aus bei der Brandbekämpfung gewonnenen Daten.
- Die Nachvollziehbarkeit des Benutzerstresszustands durch personalisierte Stresserkennung sicherzustellen, um u. a. das Vertrauen in die Lösung zu gewährleisten.
Um dafür die richtige Basis zu schaffen, fand im Dezember 2019 ein Design-Thinking-Workshop als erster wichtiger Meilenstein des Projektes statt. Mithilfe von Einsatzkräften der Freiwilligen Feuerwehr entwickelte das IBM-fortiss-Team unter anderem ein Storyboard, das die einzelnen Stationen eines Einsatzes aufschlüsselt und so die einzelnen Stresssituationen verdeutlicht: von der Annahme des Notrufs über die Anfahrt zum Einsatzort bis zur abschließenden Manöverkritik. Zusammen mit Feuerwehrleuten wurden zudem Einsatzszenarien entwickelt und in eine Virtual-Reality-Demonstration (VR-Demo) umgewandelt.
Diese VR-Demo ist ein wichtiger Bestandteil zur Entwicklung von benutzerzentrierten Stesserkennungsmodellen. Mit dieser Demo sammelt das Team in Studien Daten unter möglichst realitätsnahen Bedingungen. Ausgerüstet mit VR-Brille und Kopfhörer durchleben die Probanden dabei einen Einsatz: Sie laufen zum Beispiel auf der Suche nach Opfern in dichtem Rauch durch eine unbekannte Wohnung, den schrillen Alarm eines Rauchmelders permanent in den Ohren, müssen dabei ständig den Sauerstoffgehalt der Luft im Blick behalten und beim Opfer angekommen dessen Zustand überprüfen und die richtigen nächsten Schritte einleiten. Die Szenarien wurden dabei in zwei Stressstufen – niedrig und hoch – unterteilt, mit einer jeweils unterschiedlich hohen Anzahl an Stressfaktoren. In Studien wird das jeweilige Stresslevel der Probanden während der Demo gemessen, dafür werden Werte wie Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit, Muskelanspannung, Gehirnaktivität, Atmung und Augenbewegung erhoben. So werden anhand der gesammelten Daten mit self-supervised Learning-Modelle trainiert. Zusätzlich werden Daten einer Studie, bei der Werte aus individuellen körperlichen Belastungstests gewonnen werden, in das Modell gespeist.
Eine zweite Studienreihe mit einer größeren Gruppe von geplanten 30-50 Probanden folgt in Kürze. Die gesammelten Ergebnisse werden dann, gemäß des Design-Thinking-Ansatzes, in einem weiteren Workshop gemeinsam mit Berufsfeuerwehrkräften überprüft, um die nächsten Schritte des Projekts bei Bedarf zu justieren.
Im nächsten Teil der Serie werfen wir einen genaueren Blick auf die Erfahrungen der Probanden sowie die Einschätzungen und Anregungen der Berufsfeuerwehrleute. Ziel dieses Projektes soll es sein, in Zukunft ein einsatzfähiges System an die Feuerwehren auszurollen, um die Gesundheit und Sicherheit der Einsatzkräfte besser einschätzen zu können.
Schauen Sie wieder vorbei, wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen.