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OLG Stuttgart pilotiert IBM-Massenverfahrensassistenten zur Fallbearbeitung in Dieselabgasverfahren

Künstliche Intelligenz (KI) ermöglicht effiziente und zuverlässige Bearbeitung von Dokumenten in Dieselabgasverfahren: Die Parteien erhalten schneller eine Entscheidung, Gerichte werden deutlich entlastet
Dec 7, 2022

Ehningen, 7. Dezember 2022: Nachdem ein von IBM entwickeltes KI-gestütztes Assistenzsystem zur Bearbeitung von Massenverfahren im Fluggastrecht in juristischen Fachkreisen positiv aufgenommen wurde, entstand auf Initiative des Justizministeriums Baden-Württemberg ein entsprechendes Projekt zur Bearbeitung von am OLG Stuttgart anhängigen Dieselabgasverfahren. Die KI-gestützte Fallkategorisierung verfügt über das Potenzial, die Bearbeitungszeit einer bereits heute fünfstelligen und weiter ansteigenden Zahl von Berufungen wesentlich zu verkürzen. Nach der Auswertung anhand eines Prototyps steht die Pilotphase an. Andere Bundesländer signalisieren bereits Interesse an KI-basierten Massenverfahrensassistenten.

Am OLG Stuttgart sind vier Senate mit der Bearbeitung von Berufungsverfahren im Kontext des Abgasskandals beschäftigt. Die individuelle Bearbeitung dieser Verfahren bedeutet für die Richter einen enormen Leseaufwand der oft langen Schriftsätze in den elektronischen Akten. Das bindet nicht nur auf Jahre hinaus Kapazitäten, sondern sorgt auch aufgrund der nicht abreißenden Flut von eingehenden Berufungen in vielen gleichgelagerten Fällen für Unzufriedenheit und Frust bei den Bearbeitern.

„Die entscheidenden Eckdaten verstecken sich in anwaltlichen Schriftsätzen, die häufig mehr als 100 Seiten lang sind – und lassen sich schon bei geringfügigen Abweichungen im Text nicht mehr an derselben Stelle auffinden“, beschreibt Jan Spoenle, Präsidialrichter am OLG Stuttgart, die langwierige und zeitaufwändige manuelle Sachverhaltsprüfung. Hoch qualifizierte Juristen, so Spoenle, verbrächten einen erheblichen Arbeitszeitaufwand damit, aus unstrukturierten Schriftstücken Informationen wie Fahrzeug- und Motortyp, Abgasnorm oder ob das Fahrzeug von einem Rückruf betroffen ist, herauszusuchen, um die Vielzahl der Fälle zu kategorisieren. Auf diese Weise würden die sogenannten Dieselabgasverfahren das OLG noch auf Jahre hinaus beschäftigen.

Massenverfahren sind prädestiniert für KI-basierte Vorarbeit

Das Bundesjustizministerium hat erklärt, die Digitalisierung des Justizwesens in den kommenden vier Jahren vorantreiben zu wollen. Björn Beck vom Justizministerium Baden-Württemberg erkannte das Potenzial des IBM-Massenverfahrensassistenten für die Bearbeitung der in Stuttgart anhängigen „Dieselgate“-Klagen: Die Extraktion von Parametern und das automatische Befüllen definierter Kategorien mit diesen Informationen ist eine Aufgabe, die wie geschaffen ist für IBMs KI-gestützte Suchplattform Watson Discovery. Sie fördert Daten aus unstrukturierten Dokumenten zutage und ist in der Lage, den Zeitaufwand gegenüber einer manuellen Suche um mehr als 75 % zu reduzieren.

In nur fünf Wochen entstand in enger Zusammenarbeit zwischen OLG-Richterinnen und Richtern und dem IBM Client Engineering Team ein Prototyp. Entwickler und Richter definierten zunächst in enger Abstimmung die Anforderungen: Die fertige Lösung sollte in der Lage sein, relevante Parameter aus umfangreichen Schriftsätzen zu extrahieren und die Fälle auf Basis dieser Daten passenden Kategorien und entsprechenden Beschlusstypen zuzuordnen. So wird als Grundlage für die in richterlicher Unabhängigkeit zu treffenden Entscheidungen eine solide Datenbasis vorbereitet, die Fehleranfälligkeit minimiert und dadurch die Nutzerakzeptanz erhöht.

Hohe Anforderungen an Zuverlässigkeit, Transparenz, Sicherheit und Datenhoheit

Anhand des Prototyps wollte das Team aus Juristen und IBM-Entwicklern klären, ob die Zuteilung der Einzelverfahren zu Fallkategorien zuverlässig möglich ist und ob die von der KI zugrunde gelegten Kriterien für die entscheidenden Richter transparent und nachvollziehbar sind. Ebenso sollte die Bedienerfreundlichkeit der Benutzeroberfläche getestet und ermittelt werden, welche konkrete Zeitersparnis die Lösung der Justiz verschaffen könnte.

Um diese Ergebnisse zu erhalten, galt es eine Vielzahl von Kriterien zu beachten: Von der Qualität der von den Algorithmen getroffenen Einordnung über technologische Anforderungen wie die Anpassung der KI auf die jeweilige Domänensprache, die Verfügbarkeit und Skalierbarkeit der Lösung bis hin zu Datenverfügbarkeit, -schutz und -sicherheit.

Anforderungen an Datenschutz und Transparenz erfüllt

Die Verarbeitung personenbezogener Daten ist in juristischen Verfahren unumgänglich, was die Zustimmung der zuständigen Datenschutzbehörde erforderlich macht. Die KI-Lösung wird aus der IBM Cloud bereitgestellt, die bereits DSGVO-zertifiziert ist, mit der IBM Key Protect-Verschlüsselungstechnologie punktet und durch den Verbleib der Daten auf deutschen Servern Datensicherheit und -schutz ermöglichen kann. Die baden-württembergische Datenschutzbehörde gab aufgrund dieser Funktionen grünes Licht für den Einsatz des Modells.

Die Transparenz der KI-Lösung (und damit ihre Akzeptanz bei der Richterschaft) ist hoch. Über den Fundstellennachweis können die Bearbeiter sich zu jeder Information anzeigen lassen, wo diese herkommt und die entsprechende Stelle im Originaldokument einsehen. Stuft die KI eine elektronische Akte als „nicht eindeutig zuzuordnen ein“, muss der menschliche Bearbeiter manuell nachjustieren. Das passiert etwa bei fehlenden Informationen oder, wenn in erster Instanz dem Kläger in einem oder mehreren Punkten recht gegeben wurde und in anderen nicht. Und auch bei eindeutiger Zuordnung zu einer Fallgruppe kann der menschliche Bearbeiter die Kategorie manuell ändern. Nach wie vor trifft jedoch der jeweilige Richter bzw. OLG-Senat die Entscheidung, die den Parteien als Beschluss oder Urteil zugestellt wird. Das System informiert lediglich und unterstützt in der Sachverhaltsanalyse und -darstellung, es handelt zu keinem Zeitpunkt. Das letzte Wort hat immer der Mensch.

Hohe Skalierbarkeit für vergleichbare Massenverfahren

Die Schlussvalidierung zum Ende der Prototyp-Projektphase liest sich vielversprechend: In Sachen erfolgreicher Fallkategorisierung, Nachvollziehbarkeit und Transparenz, Bedienbarkeit durch juristisches Fachpersonal und Zeitersparnis erreicht die KI-Lösung auf einer zehnstufigen Skala in allen Kategorien Werte knapp über oder unter neun. Ein weiterer großer Vorteil des KI-Modells liegt darin, dass es dynamisch ist und sich an einen geänderten Rechtsrahmen anpassen kann: Entscheidet etwa der BGH, dass weitere Kategorien herangezogen werden müssen, können diese ergänzt werden, indem die Kategorisierungsregeln angepasst werden.

Angesichts dieses Ergebnisses blicken Richterschaft und IBM-Entwickler positiv in die Zukunft. „Ziel ist es, die Anwendung in der Pilotphase zunächst allen vier Diesel-Senaten des OLG Stuttgart zur Verfügung zu stellen“, sagt Björn Beck. „Mittelfristig soll ein einheitliches KI-gestütztes Kategorisierungssystem für alle Gerichte in Baden-Württemberg aufgesetzt werden, langfristig kann die Technologie bundesweit in Massenverfahren aus anderen Rechtsbereichen (etwa Mietpreisverfahren) zur Kategorisierung und Parameterextraktion zum Einsatz kommen, die Gerichte entlasten und einen wesentlichen Beitrag zur Digitalisierung der Justiz leisten.“ Die Chancen dafür stehen gut: Andere Bundesländer haben bereits aktiv angefragt.

Anhang: Die Funktionsweise des IBM-Massenverfahrensassistenten

Das Projektteam definierte zunächst Strukturen in Dokumenten wie etwa dem erstinstanzlichen Urteil, das den Richtern am OLG als elektronische Akte, kurz eAkte, vorliegt. Darin enthaltene Strukturelemente sind etwa das Rubrum, der Tenor, der Tatbestand und die Entscheidungsgründe. Anschließend wurde das KI-Modell in der dafür vorgesehenen Umgebung IBM Watson Knowledge Studio für seine eigentliche Aufgabe trainiert. Diese besteht darin, innerhalb der erkannten Strukturelemente mittels der von IBM Watson Discovery bereitgestellten Smart Document Understanding-Funktion Informationen zu ermitteln und in strukturierten Kategorien auszugeben.

Dazu zählen etwa Kaufdatum, Verkäufer, Fahrzeugtyp, Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN), Schadstoffklasse, Motortyp oder die Frage, ob das Fahrzeug von einer offiziellen Rückrufaktion des Kraftfahrtbundesamts betroffen war. Dabei kommt das sogenannte Named Entity Recognition-Verfahren zum Einsatz: Der Algorithmus ist in der Lage, beispielswiese eine Zeichenkette in einem bestimmten Format als Motor-Typ oder FIN zu erkennen und dem Benutzer als Ergebnis eine regelbasierte Zuordnung und Priorisierung der Kriterien zu liefern. Dadurch wird die automatisierte Einordnung in eine Kategorie möglich. Anstelle einer aufwändigen Beschlusserstellung für jeden Einzelfall können gerichtliche Beschlussvorlagen für die verschiedenen Fallkategorien mit den jeweiligen individuellen Informationen angepasst werden. Fähigkeiten wie das Vergleichen von Dokumenten, die Zusammenfassung von Inhalten, die Priorisierung eingehender Fälle und das Erkennen von Mustern für die Schaffung neuer Kategorien stehen auf der Liste für die Weiterentwicklung des Assistenten im Rahmen der künftigen Zusammenarbeit.

Über IBM:
Mehr Informationen zu IBM finden Sie unter https://www.ibm.com/de-de

Weitere Informationen für Journalisten:
Dagmar Domke
Unternehmenskommunikation IBM Deutschland
Tel: +49-170-480-8228
E-Mail: dagmar.domke@de.ibm.com

 

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