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„Ab 2022 läuft das hier alles digital.“ Ist das ein Satz, den man sich von einem Behörden-Vertreter heute nur schwer vorstellen kann? Vielleicht im Moment noch nicht, aber, aber die...
„Ab 2022 läuft das hier alles digital.“ Ist das ein Satz, den man sich von einem Behörden-Vertreter heute nur schwer vorstellen kann? Vielleicht im Moment noch nicht, aber, aber die Verordnung mit dem sperrigen Namen “Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen”, kurz Onlinezugangsgesetz OZG, kann da helfen. Geht es nach den Forschern von IBM und fortiss, dem unabhängigen Landesforschungsinstitut des Freistaats Bayern für softwareintensive Systeme, ist das aber noch nicht alles: Sie arbeiten gemeinsam schon an einer Lösung für proaktive Verwaltung, mit der die Prozesse nicht nur digital, sondern sogar proaktiv angestoßen werden. Jetzt wird es richtig spannend, oder?
Das Onlinezugangsgesetz, kurz OZG, verpflichtet Bund, Länder und Kommunen ihre Leistungen über entsprechende Verwaltungsportale den Bürger_innen bis Ende 2022 auch digital anzubieten. Um das zu stemmen, wurden im OZG-Umsetzungskatalog etwa 600 Leistungen erfasst, in Themenfelder und Lebenslagen unterteilt und dann priorisiert. Zug um Zug werden die Verwaltungsleistungen in zwei Programmen umgesetzt, abhängig davon, ob es sich um eine Leistung aus dem Bund oder auf föderaler Ebene handelt.
Nutzer_innen stehen von Beginn an im Fokus
Im Mittelpunkt stehen dabei laut Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) stets die Nutzer_innen der Leistungen. Denn nur, wenn sie die Verwaltungsportale annehmen und gerne nutzen, kann man von einem Erfolg sprechen. Und das ist keine Selbstverständlichkeit, wie diese Studie aus dem Jahr 2019 zeigt: Zwar wollten 78 Prozent der Befragten Behördengänge online erledigen, doch die existierenden Dienste wie Online-Formulare überzeugten nicht mal jeden zweiten. Der bisherige pragmatische Ansatz ist also nicht genug.
Tatsächlich verändert die Digitalisierung die Verwaltung in einem enormen Ausmaß und die Neuausrichtung der Leistungen auf Nutzer_innen verlangt nach umfassenderen Konzepten. IBM und fortiss haben diese gemeinsam entwickelt und erprobt. Die „Readiness Assessment-Methode für Verwaltungsleistungen“ setzt auf eine proaktive Rolle der Verwaltung und geht damit einen entscheidenden Schritt weiter, als es die Online-Formulare bisher taten.
Pilotprojekt für die proaktive Verwaltung: Gewerbeanmeldung
Um die Machbarkeit zu demonstrieren, haben die beiden Partner zunächst eine der Leistungen aus dem OZG-Umsetzungskatalog gewählt, die eine hohe Priorität hat und zugleich in vielerlei Hinsicht durch einen proaktiven, digitalen Prozess im Sinne der Nutzer_innen verbessert werden kann: die Gewerbeanmeldung. Je nach Gewerbeart – z.B. Handwerk, Gastronomie oder Personenbeförderung müssen unterschiedliche Dokumente besorgt und vorgelegt werden. Außerdem sind häufig Anträge nötig, die zumindest teilweise identische Inhalte haben – Abfallentsorgung, Schanklizenz oder Führungszeugnis beispielsweise.
Als Nächstes haben IBM und fortiss die nötigen Schritte für die Anmeldung einer Gastronomie genauer betrachtet. Es zeigte sich: Die Nutzer_innen müssen heute nicht nur zahlreiche Angaben mehrfach machen, sondern der Prozess der Gewerbeanmeldung insgesamt ist nicht immer klar und deutlich strukturiert. Es waren weder der Umfang der Schritte noch die Bearbeitungszeit immer gleich zu erkennen.
Mit diesem Wissen führten die Forschungspartner anschließend einen interdisziplinären Methodenworkshop durch, bei dem ausgehend vom IST-Szenario eine mögliche digitale und vor allem weitgehend antragsfreie proaktive Umsetzung der Verwaltungsleistungen erarbeitet wurde. Nach rund vier Monaten konnten die Beteiligten dem Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie eine digitale Service-Plattform vorstellen, die den ganzen Prozess weitgehend interaktionslos begleitet. Das Video zeigt, wie die Zukunft aussehen könnte:
Digital Readiness Assessment and Piloting (IBM fortiss Center for AI)
Über das zentrale Service-Portal können sich Nutzer_innen also nicht nur via Chatbot informieren, sondern erhalten auch auf Ihre Anfrage zugeschnittene Tipps beispielsweise für Ihnen zustehende Leistungen. Einmal übermittelte Informationen werden vom System in weitere Formulare übertragen und ein zentrales Dashboard gibt Auskunft über den Status sowie die nächsten Schritte.
Kommunikation zwischen Behörden und Nutzer_innen automatisieren
Einheitliche Schnittstellen zwischen den beteiligten IT-Systemen, automatisierte Datenabfragen und neue Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) und Distributed-Ledger-Technologie (DLT) machen die Vision einer nutzungszentrierten, proaktiven Verwaltung heute schon möglich. Auch die hohen Anforderungen an den Datenschutz können mühelos berücksichtigt werden.
Welche Leistungen aber lassen sich künftig proaktiv gestalten? Hier lohnt es sich, genau hinzusehen: Aus Sicht der Projektbeteiligten ist es immer nur die Kommunikation zwischen Behörden und Nutzer_innen, die sich ganz oder teilweise automatisch gestalten lässt – nicht aber die inhaltliche Arbeit der Behörden selbst. Diese bleibt in der Verantwortung der Beamten, die fachlich entsprechend geschult sind und mitunter Ermessensentscheidungen auf Basis der aktuellen Gesetzeslage treffen. Selbst bei vermeintlichen klaren Regelungen ist es notwendig, den Grad der Automatisierung zu prüfen. Beispiel BAföG: Viele junge Menschen wären per Gesetzeslage berechtigt, den Zuschuss zu erhalten, allerdings müssten sie die damit verbundenen Schulden später wieder abzahlen. Ob dieses Modell für sie in Frage kommt, ist eine sehr persönliche Entscheidung und sollte es auch bleiben. Denkbar ist in diesem Fall also im ersten Schritt nur ein automatischer Service in Form von weiterführenden Informationen oder dem Angebot eines Beratungsgesprächs.
Besonders großes Potenzial haben automatische Abläufe im Übrigen nicht nur für den Einzelnen, sondern vor allem für Unternehmen und Organisationen: Behördengänge stehen sehr viel häufiger auf ihrer Tagesordnung und die Prozesse sind weitaus komplexer. Könnten sie durch eine proaktive Verwaltung Zeit und Geld sparen, käme das letztendlich dem Wirtschaftsstandort und damit unserer gesamten Gesellschaft zu Gute.
IBM und fortiss haben mit ihrem Projekt zu proaktiver Verwaltung die Grundlagen für eine nutzerfreundliche Verwaltung der Zukunft gelegt. In einem nächsten Schritt sollen die Ergebnisse des Projekts mit Verwaltungen auf kommunaler und Landesebene in die Praxis übertragen werden – drücken wir also die Daumen, dass die Bürokratie künftig für uns arbeitet!